Texten als Begleiterscheinung: Reisetagebuch
- Nadine Zwingel
- 8. Feb.
- 8 Min. Lesezeit
Manchmal, da muss man einfach losziehen. Ohne zu wissen, wohin; ohne zu wissen, warum; ohne zu wissen, dass man letztlich doch immer irgendwo ankommt, um ein wenig Rast bei sich selbst zu machen. Mein #justanotheruselesstravelblog durch Thailand – intime Einblicke in die Gedankenwelt einer gerne Suchenden.
5 Uhr früh
Stockdunkel, Minus 6 Grad, Zwiebelschicht aus Sommerklamotten viel zu heißen Kaffee ins Gesicht. Zunge verbrannt, aber spürbar ist nur das Herz, wie es in die Hose rutscht. Die Nacht war kurz, die Aufregung lang. Seit der Buchung vor einem Monat nicht mehr richtig gepennt. Die Autofahrt zum Flughafen, gesäumt von Scheinwerfern pflichtbewusster Pendler:innen, auf dem Weg zum Dienst. Und ich mittendrin. Auch auf dem Weg zum Dienst. Zum Dienst an mir selbst, das Glück freilich reinzulassen und Barrieren da zurückzulassen, wo sie gewachsen sind: im depressionsverwöhnten Kopf.
Gustl
Dreierreihe, Mittelplatz gequetscht und um Armlehnen ringend. 5 Stunden bis Doha. 3,5 Stunden Aufenthalt, 6 Stunden bis Bangkok. Rechts ein vertrautes Gesicht, links ein Mann um die 60. Groß. Weiß. Kahlköpfig, aber mit Haaren über und unterhalb des Mundes. Ein Mund, der gerne für großzügig ausgeschmückte Geschichten benutzt wird. Manche
will man hören, die meisten nicht. Gustl aus Germering. Der Biker, der seine Kutte über unseren Köpfen im Handgepäck weiß und solange Schnupftabak schnieft, bis die Landung den Gang ins Raucheraquarium ermöglicht. Ich selbst noch nie zuvor in Thailand gewesen, empfiehlt er mir allerhand – und hauptsächlich das ihm Wichtigste. Von der besten Motorradroute bis zum bekanntesten Bikerclub und – wie ratsam es sei, kein Motorrad als Gepäck aufzugeben. Viel zu gängelnd das Flughafenpersonal, wenn das motorisierte Zweirad vom bayerischen Bergland ins Gebirge Siams verfrachtet werden soll. Während der Zigarettengeruch fest an Gustls Kleidung haftend, plötzlich verschwindet, weil die Klimaanlage sämtliche Schleimhäute erfolgreich besiegt hat, freue ich mich auf tatsächlich riesig auf meine erste Rollerfahrt durch Thailand. Well done Gustl.
Zimmer ohne Fenster
Augenringe bis zu den Füßen schleppen wir uns durchs Jetlag in den Verirrungen der asiatischen Metropole. Neue Sprache, neue Buchstaben, neue Währung. Vergiss die alte Orientierung, denn hier herrscht das Schicksal, das dich zufällig an den richtigen Ort bringt. Auf dem Rücken 12 Kilo, vorbei an Wolkenkratzern, zwischen denen Tempel, Wellblechhütten und Sümpfe wachsen. Schweiß und schwelende Küchendämpfe vermischen sich mit Abgasen, Räucherstäbchen und zu heiß gewordenem Beton. Nur 40 Minuten entfernt wartet ein erlösendes Bett auf uns. Schlaf als erstes Reiseziel. Im Zimmer ohne Fenster. Mitten in Bangkok. Dorfleben, Hühnerfüße und Thaiboxen Vom kapitalen Moloch ins kapitale Hinterland lautet der nächste Sehnsuchtsort Ruhe. Unverfänglich authentisches Nordthailand, fern von Menschen, die aussehen wie ich. Neues Gefühl, neue Perspektive. Die der Minderheit. Die der Beäugung. Die der Fremden. Fremde jedoch für schwindelerregend kurze Zeit, da die herzliche Gastgeberin den Weg kreuzt – mit einer distanzlosen Vereinnahmung, mindestens ebenso schwindelerregend. Schnell esse ich Hühnerfüße bei Locals, zerhacke meine Ohren zu lautem Thai-Ska, schaue Minderjährigen beim Thaiboxen zu oder lerne, wie man sich mit Händen und Füßen bespricht. Im Zweifel ein Lächeln. Ohne Zweifel ebenfalls ein Lächeln. Ehemalige Gesichtsmuskeln beginnen sich an ihre fröhliche Existenz zu erinnern. Und so wird alles zu viel.
Introvertiertes Reisen, extrovertierte Selbstbestimmung
Ich fühle mich fremdbestimmt durch die sich täglich aufdrängenden Angebote einer emotional bedürftigen Gastgeberin, die das Alleinsein kompensiert. Ein Unterhaltungsspielball. Für die Dauer meines Aufenthalts gebuchte beste Freundin. Das Zepter der Entscheidungen, die mein Leben gestalten, schon wieder aus der Hand gleitend. Diesmal nicht an Eltern, Depression oder geringen Selbstwert. Diesmal an einen mir völlig fremden Menschen. Ein Übergriff. Eine Grenzüberschreitung. Das Zepter bleibt heute bei mir. Maximale Selbstbestimmung und Verantwortung.
Ich entscheide, wann.
Ich entscheide, was.
Ich entscheide, wo.
Ich entscheide wie.
Ein Nein zu viel und die Reaktion kontert schnell. Ich fühle mich nicht mehr willkommen. Zeit, ein letztes Mal Nein zu sagen und weiterzuziehen. Wege trennen sich. Neue Wege kreuzen sich.
Linksverkehrte Unabhängigkeit
Emotionale Unabhängigkeit. Ich schaffe es allein mit dem sicheren Wissen: Ich muss es nicht. Hilfe annehmen ist gut, wenn ich das so will. Ich will aber nicht. Nicht jetzt. Nicht Opfer der Umstände sein. Nicht hilflos sein. Nicht bequem sein. Stattdessen selbstwirksam sein. Erwachsen sein. Frau sein. Ich akzeptiere die Angst und mach es trotzdem. Rauf auf den Roller, 12 Kilo umgeschnallt und geradewegs auf den linksverkehrten Highway. Das Ziel? Chiang Mai Zentrum. Bernds und Günthers mit ohne Frau Hotel Montha, zentral, clean, im Ranking bei 8,9 – also fantastisch bei Agoda. Bernds und Günthers bestätigen das mit ihren positiven Bewertungen. Freundliche Zeilen betagter Soloreisender. Wert wird gelegt auf dreilagiges Toilettenpapier, westliches Frühstück, diskreten Service. Hätte ich skeptisch werden können, beim Scrollen durch ebenjene Beurteilungen? Ja. Hätte ich der Wahl meiner nächsten Unterkunft etwas mehr Zeit gönnen sollen beim Surfen durch diverse Bookingplattformen? Ja. Hätte ich vorher die Umgebung des Hotels etwas genauer recherchieren können, bevor ich vor Begeisterung darüber endlich weiterzuziehen, das mir Erstbeste im Zentrum erklickt habe? Definitiv. Naiv stolpere ich ins rote Milieu. Wie früher in Berlin, als ich noch nicht erkannte, was Drogen mit Augen anstellen oder Autofahrer mit Röcken am Nollendorfplatz. 60 jährige Bernds und Günthers sitzen mit 20- jährigen Anyamanees, Mayaris oder Arayas am Tisch und servieren ihr westliches Geld. Verlangen zeitweise gestillt durch gekauftes Interesse getarnten Ekels. Unbemerkt bleibe ich nicht. Meine Anwesenheit sticht den Bernds und Günthers ins Ego. Sie erinnert an das, was sie zu Hause erwartet. Nichts. Kunst zwischen Kunst und die Kunst, nicht von Tauben angekackt zu werden Erwachen in Chiang Mai, der Tag gehört mir. Stunden zuvor die Stadt noch ohne Plan erschlendert, suche ich diesmal gezielte Inspiration. 31st Century Museum wartet als letzter Vorschlag auf Google-Seite 9. Algorithmen und SEOOptimierung nahezu entkommen – und deshalb ein mir erhoffter Underdog im kulturinteressierten Tourismusgerangel. Ich liege richtig, sämtliche Tuk-Tuk-Fahrer präsentieren mir ihr freundlichstes Stirnrunzeln als Antwort auf meine Zielvorgabe. Beim Dritten ein Schulterzucken und los geht die Fahrt, jedenfalls – und doch länger als erwartet. Vor Ort sind Türen geschlossen, aber offene Tore vermitteln Widerstand. Ich traue mich und werde belohnt. Künstler Kamin Lertchaiprasert bittet herein, obgleich seine Ausstellung geschlossen. Wie der Tag bereits mein, gehören mir nun auch für Augenblicke Galerie, Atelier und Privaträume des nativen Künstlers. Obendrein ein Geschenk, als ich gefragt werde, ob man mich bei der Werkschau fotografieren dürfe. Eine Erinnerung für ihn und für mich. Als Kunst zwischen Kunst. Der Vormittag hinter uns drängen Termine am Nachmittag zum Weiterziehen. Also schaue ich bis Laufweite und entdecke die etwa 700 Jahre alte buddhistische Tempelanlage Wat Umong. Ein riesiges Areal mit Pagode, Tunneln, Teichen und Tieren. Zwischendrin genügsam lebende Mönche sowie ein Platz am Wasser, um Tiere zu füttern. Ehrfürchtig schaue ich mir alles an bis zu jenem Platz, an dem Karpfen ihre Mäuler an die Wasseroberfläche japsen während flatternde Konkurrenz aus der Luft anschießt. Es gibt nur wenige Tiere, die ich lieber auf Abstand weiß. Dazu zählen Spinnen, Karpfen und Tauben. Mit gleich zwei Arten zur selben Zeit konfrontiert beobachte ich das Spektakel mutüberströmt aus nächster Nähe. Danke Karma, ich wurde nicht angekackt. Selfiestickprothesen vs. Zweibeinstative – Teil 1
Der erste Pauschaltrip steht an. Kaffeefahrtvibes im Dschungel mit acht bunten Ausflugsgesichtern aus China, Israel, Türkei und – man schafft es einfach nicht, keine anzutreffen – Deutschland. Obendrein der Kautabak kauende Fahrer und unsere Guidin Sarah. Sarah ist ein quirliger Ladyboy und nennt sich hauptsächlich deshalb Sarah, weil wir, wie sie sagt, alles andere nicht aussprechen können. „Challenge accepted" denke ich – doch dafür keine Zeit. Überhaupt scheint Zeit ein währendes Problem, denn das Programm ist straff und Sarahs Zeigefinger wird ihre Armbanduhr heute noch mehrmals forsch antippen. Wir halten gleich zu Beginn an der Fressmeile, damit zum mitgebrachten Pausensnack weitere Pausensnacks gekauft werden können. Wo wir doch nur kostenlos Lunch serviert kriegen. Ich werde mich auf meiner Reise übrigens noch sehr häufig unverhältnismäßig kulinarisch versorgt fühlen, aber das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Als wir den ersten richtigen Sightseeing-Spot erreichen, den „Wachirathan Waterfall" bin ich keine zwei Sekunden aus dem Van gehüpft, da rennt mir Ammar hinterher, ein Alleinreisender aus der Türkei. „You are a single person, I am a single person. Let's build a team", seinen Selfiestick wieder in den Rucksack kramend. In der Tat sind wir die Einzigen, die keine Begleitung dabei haben. Also willige ich ein, nichtsahnend, dass dies bedeutet, von nun an als persönliches Zweibeinstativ unterwegs zu sein. Ammar sind schöne Erinnerungsfotos mit ihm selbst darauf wichtig und er kann sich so gar nicht vorstellen, dass dies bei mir anders ist. Also gebe ich mir allerbeste Mühe. Hinter der Kamera. Wechsel. Vor der Kamera. Exakt sieben Minuten. Danach dauert es mir zu lange und ich klettere den Wasserfall hinunter. Außer Sichtweite und mitten durch die Verästelungen zahlreicher Selfiesticks weiterer Erinnerungsfotosliebender. Sie wirken wie Prothesen und so manche wünschen sich sicherlich ihrer anstelle der lästigen Arme an die Gelenkpfanne. Und während Sarah bereits aus der Entfernung forsch auf ihre Armbanduhr tippt, staune ich endlich linsenfrei über die gewaltigen Wassermassen, die sämtliche Erwartungen mit tosendem Gebrüll verschlucken. Ich bin glücklich.
Teil 2
Ammar werde ich natürlich trotzdem nicht los. Was letztendlich erheitert, denn er ist ein lustiger Zeitgenosse. Filmt mich beim Wandern, fotografiert mich beim Essen, präsentiert mir in voller Lautstärke seinen liebsten griechischen Musiker auf YouTube und schaut grölend Fußball auf dem Handy, während wir mit Zeigefingertippsarah zum nächsten Spot fahren. Beim Lunch bestellt er eine Extraportion, weil kostenlos und kurz denke ich: „Alman?". Danach Zigarrerauchen mit ehemaligen Opium-Bauern an der Kaffeeplantage und er ist der Einzige, der ihnen dafür nicht aus respektvoller Höflichkeit eine Packung Kaffee abkauft. Schamempfinden mehrmals getriggert, Schamempfinden mehrmals überwunden. Ein Balanceakt in meinem Kopf ist Ammar so laut seinen Bedürfnissen folgend wie ich es niemals könnte. Als wir nach acht Stunden Sightseeing mit vier verschiedenen Spots, einer Ausschließlichbergauf- Hikingtour, großzügiger Lunchtime und finaler Kaffee(fahrt)verkostung – schließlich wieder nach Chiang Mai zurückfahren, schlafe ich vor Erschöpfung ein. Ammar ist sauer, dass ich müde bin. Der Abend noch jung und morgen geht sein Flug zurück. Er hätte gerne noch eine Runde Nadine getriggert. Pardon, erheitert. Die Gäste der einzigen Gästin – Gast 1
Irgendwo im 40 Kilometer entfernten Nirgendwo postieren Chais vier gezimmerte Baumwipfelkonstruktionen abseits von alledem, was sich Sozialisation nennt. Ich bin nicht nur die einzige, sondern auch seine allerletzte Gästin der Saison. Wow. Hätt ich's gewusst, hätt ich's gebucht? Aufregung überdeckt die Angst, die nachts dazu führt, nicht aufs Klo zu wollen, weil nicht wissend: Droht Kampf mit Vielbeinern? Es dunkelt, der Dschungel brüllt mich an und ich nehm's ihm nicht krumm. Stattdessen beruhigende Wirkung, weil – kein Mensch weit und breit. Es kommt wie vermutet, hallo Self-fulfilling Prophecy und punicadeckelgroßes Getier verirrt sich fliegend zum Schlafplatz. Pünktlichst, denn ich muss nun aufs Klo. Stockdunkel. Warten. Aushalten. Haushalten. Durst. Mist. Selbstgespräch:„Empowerment Dinzl, Empowerment." Halbe dreiviertel Stunde den Drang erfolgreich verzwickt, gebe ich auf. Schäle mich todesmutig aus dem Gemach. So leise wie möglich, so dünn wie möglich. Das Insekt, mindestens so angeekelt von mir, wie ich von ihm, saust triumphierend davon. Es hat das Aushaltematch gewonnen.
Gast 2
Zurück vom Klo, Insekt weg, Erleichterung in psychischer wie physischer Hinsicht. Ich dämmere weg, stolz auf mich und zumindest so lange, bis ich erneut aufschrecke. Die Plattform wackelt, etwas Mächtiges ist soeben aufgesprungen und macht es sich direkt neben mir gemütlich. Allein das Insektennetz trennt mich von dem, was ich in der Dunkelheit nicht erkenne. Es gähnt. Denkt nicht mal daran, bald wieder zu verschwinden. Wer kann es verübeln, bin ich hier doch der wahre Eindringling. Herzklopfen. Warten. Aushalten. Haushalten. Durst. Mist. Selbstgespräch:„Empowerment Dinzl, Empowerment." Augen fest zudrücken. Problem gelöst. Tatsächlich schlafe ich ein, eingeholt von der Akzeptanz, hier eben der Gast im Tierrevier zu sein. Als ich aufwache, wartet ein freundliches, ungeduldiges Fellgesicht auf mich. Kein Schlangenmonster, kein baumkletternder Ziegenbock, nur ein hechelnder Hund, der mit Augen nach Leckerlis verlangt. Ich schenke ihm mein Croissant und von da an sind wir Baumhaus-Freunde. Pünktlich zur zweiten Nacht erscheint Hund, den ich Hund nenne, erneut und wacht neben mir. Bis der Morgen anbricht, wir uns das zweite Croissant teilen und Chai kommt, um mich abzuholen.
Kulturschock-Almans
Zum Abschied Nordthailands noch winkend 'ne Träne verdrückt, wäre wohl ein ganzer Strom geflossen, hätte ich geahnt, was Krabi im Süden kultiviert. Kulturschock-Almans westliche Standards bietende Massenabfertigung. Angelehnt ans Konzept Supermarkt, nur dass diesmal wir die Ware sind, die übers Band geschubst wird. Der Ballermann Südostasiens bis ins kleinste Detail durchdacht – und wir alle so: brav am Konsumieren. Pauschalangebot ist die Sprache, die fließend gesprochen wird. Schnorcheltour, Inseltour, Tauchtour, Elefantentour, Sonnenuntergangstour, Tempeltour, Höhlentour, Tortur. Obendrein Rausch und musikalische Odeuvre zum Mitgrölen, ganz wichtig: simpel im (Kon)text und freilich abtötend laut, damit das eigene Denken finales Ende findet. Erster Tag erster resümierender Gedanke:„Fuck it!" Ein Gespräch mit dem mir wichtigsten Menschen. 9.163 Kilometer dazwischen. Noch mal drüber schlafend, den Blick neu richtend und die soziologische Perspektive gewählt. Mitmachen, beobachten, Statistiken aufstellen. Oder in meinem Fall: darüber lachen, darüber schreiben.